Originaltitel: "The Dispossessed"
Original: © 1974 Ursula K.LeGuin
Übersetzung: © 1976 Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
mein Exemplar: © 1987 Verlag Das Neue Berlin, Berlin (DDR)
Soweit meine Erinnerungen mich nicht trügen, war es mein 14. Geburtstag, an welchem ich dieses Buch geschenkt bekam, weil meine Eltern bemerkt hatten, daß ich eine Vorliebe für Science Fiction herausgebildet hatte. Zu jener Zeit las ich aber nur noch das, was mir die Schule zu lesen auftrug. Andere Medien hatten mein Interesse geweckt und nahmen meine Zeit in Anspruch. 6 Jahre später hatte ich die Schule beendet und eine Unmenge an Zeit brach über mich herein. Also begann ich wieder zu lesen und nach "Drachenkreuzer Ikaros" erweckte plötzlich dieser 450 Seiten schwere Roman mein Interesse, den ich in all den Jahren unzählige Male in den Händen hatte, ohne ihn auch nur einmal zu öffnen. Dies änderte sich nun...
"Da war eine Mauer. Besonders wichtig wirkte sie nicht. Sie bestand aus roh zugehauenen, vermörtelten Feldsteinen; ein Erwachsener konnte mühelos darüber hinwegblicken, und sogar ein Kind konnte sie erklettern. Wo sie die Straße kreuzte, besaß sie kein Tor, sondern reduzierte sich zu reiner Geometrie, zu einer Linie, einem Symbol für Grenze. Doch dieses Symbol, diese Idee war real. Und sie war wichtig. Seit sieben Generationen gab es nichts Wichtigeres auf der Welt als diese Mauer. ..."
So fängt es an. Die Mauer spielt eine sehr große Rolle in diesem Buch, sie ist ein immer wiederkehrendes Motiv für alle Arten von Barrieren, besonders auch von Denkbarrieren. Die Welt, von der hier die Rede ist, ist nicht die Welt, die wir kennen. Ihre Bewohner - die Odonier - nennen sie Anarres und sie ist der Schwesternplanet von Urras, Heimat der Urrasti.
Dies ist das Szenarium, in das die Autorin den Leser einführt: Urras, ein schöner Planet, reich an Rohstoffen, reich an Leben, von verschiedenen Völkern bewohnt, die in Staaten unterschiedlicher, u.a. kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaftsformen leben, der sich dem Leser schnell als Ebenbild der Erde, die es aber als Terra in der beschriebenen Welt auch noch gibt, entpuppt; und Anarres, ein dürres, unfreundliches Stück kosmischen Treibholzes, auf dem sich die Odonier, benannt nach ihrer Führerin Odo, vor ca. 150 Jahren ansiedelten, als sie Urras verließen, um eine gänzlich neue Gesellschaftsform zu gründen. Zwischen diesen beiden Welten bestehen nur Handelsbeziehungen und der Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse. Passagiere haben die Schiffe nicht an Bord, die auf dem Flugplatz landen, der durch oben beschriebene Mauer eingegrenzt wird.
U.K.LeGuin schildert diese Welten in zwei Handlungsebenen. Die erste beginnt im Leben des erwachsenen Shevek, einem bedeutenden Physiker, der auf Anarres lebt und der der erste Odonier ist, der nach 150 Jahren - deshalb von seinem Volk verachtet - wieder nach Urras zurückkehrt, was der Inhalt dieser Ebene wird. Die zweite beginnt in seiner frühen Jugend und beschreibt sein Leben auf Anarres, bis zum Abflug nach Urras, so daß sich beide Ebenen am Ende des Buches verbinden.
Dadurch beschreibt die Autorin dem Leser stets im Wechsel die Zustände auf Anarres und Urras, genauer gesagt Sheveks Sicht dieser Zustände und diese glaubwürdige Perspektive macht es ihr möglich, die Geflogenheiten auf Urras, unsere Geflogenheiten, auf beeindruckende Weise auseinanderzunehmen. Aber diese Kritik bleibt wiederum nicht ohne Alternativentwurf, denn diesen findet man im Odoismus, wenn auch U.K.LeGuin dessen Schwächen wiederum gleich selbst aufzeigt.
Die Geschichte, die in "Planet der Habenichtse" erzählt wird, ist klein, nichtssagend, eigentlich kaum der Rede wert, aber die Probleme, die in sie eingebettet sind, die philosophischen Thesen, die herbe Kritik an den Dingen, die wir als selbstverständlich hinnehmen und die nur aus der Sicht eines völlig Fremden angefochten werden können, wenn dies nicht an einem viel zu oft zu hörenden "Es ist nun aber mal so." scheitern soll, sie sind es, die dieses Buch interessant, die es zu einem großartigen Werk machen.
Aber zunächst noch einmal zurück zur odonischen Welt, denn diese muß glaubhaft sein, damit der Held glaubhaft werden kann und damit seine Perspektive auf Urras, seine Kritik an uns.
Auf Anarres herrscht eine Gesellschaftform, die man vielleicht irgendwo zwischen Anarchie und Sozialismus einordnen könnte. "Die odonische Gesellschaft war als permanente Revolution gedacht..." Deshalb mag man dieses Buch auch als Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus auffassen - denn Shevek besucht auf Urras das kapitalistische Land Io, jedoch finde ich dies zu fordergründigig betrachtet. Die Kritik der Autorin geht wesentlich tiefer und der Konflikt zwischen diesen beiden Gesellschaftsformen auf Urras bekommt auch einige Zeilen gewidmet, spielt aber eine eher untergeordnete Rolle.
Die Anarresti sind eine Gesellschaft der Gleichstellung, die auch vordergründig gut funktioniert, sie teilen alles - und haben nichts. Es wird wirklich ein sehr ideelles Bild gezeichnet, eine gerechte und humane Gesellschaft, nur logisch, daß diese so nicht glaubhaft wäre. Deshalb versetzt U.K.LeGuin sie in eine permanente Not, indem sie Anarres als eine extrem unfreundliche Welt beschreibt, in der die Anarresti all ihre Kräfte aufbieten müssen, um Roh- und Nährstoffe aus ihr herauszupressen. Durch diese Not wird eine Einsicht der Bewohner in die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, der Zurückstellung der eigenen Bedürfnisse nach Individualität heraufbeschworen.
Aber es wäre immernoch zu einfach, wenn dies so funktionieren würde und so zeigt die Autorin, daß es nicht funktioniert, daß es auch auf Anarres Menschen gibt, die ihren eigenen Weg zu gehen suchen, die sich von der Gesellschaft zurückziehen (beziehungsweise von ihr abgewiesen werden), die einfach ihre Individualität ausleben, denn das ist die Schwäche des Odoismus: daß er den Individualismus des Menschen leugnet oder zumindest zu begrenzen sucht. Die "permanente Revolution" war zum Erliegen gekommen. Das ist auch das Problem, was schließlich dazu führt, daß Shevek nach Urras fliegt.
Aus dieser Welt also kommt er nach Urras, zu uns, und prangert an. Aber er tut dies nicht mit dem erhobenen Zeigerfinger, sondern dadurch, daß er strauchelt, daß diese Gesellschaft ihn nahezu zu Fall bringt, weil er vieles einfach nicht begreifen kann, so fremd ist es ihm. Der Leser wird durch seine Sympathie für Shevek entsetzt über sich selbst oder zumindest über die Welt, in der er lebt.
In beeindruckenden Formulierungen schildert U.K.LeGuin diese unbegreiflichen Dinge, z.B. das zur Schau stellen der Sexualität, bzw. das Vorteil aus seinem Körper schlagen...
"... Es wurde ein sehr kleiner Spaziergang: ein langsames, höchstens zehn Minuten langes Schlendern über den Rasen, dann ließ sich Vea graziös im Schatten einer hohen, gelb blühenden Hecke nieder. Er setzte sich neben sie. Als er Veas schlanke, mit kleinen, weißen, sehr hochhackigen Schuhen bekleidete Füße betrachte, kam ihm ein Ausdruck in den Sinn, den Takver zu benutzen pflegte, >Körperprofitlerin< hatte Takver jene Frauen genannt, die bei einem Machtkampf gegen Männer ihre Sexualität als Waffe einsetzten. Und wenn man Vea betrachtete, war sie eine vollendete Körperprofitlerin. Schuhe, Kleider, Kosmetika, Schmuck, Gesten, alles an ihr war provozierend. Sie war so völlig und demonstrativ ein weiblicher Körper, daß sie kaum noch ein weiblicher Mensch zu sein schien. Sie war die Inkarnation der Sexualität..."
Ich sollte vielleicht anmerken, daß Vea eine Frau ist, wie sie zuhauf auf unserem Planeten zu finden sind, obgleich sie aus sehr gehobenem Stande ist.
Hauptanklagepunkt ist aber der Besitz. Er ist, woran all unser Elend haftet, allen voran unsere Unfreiheit. Die schildert die Autorin in einer Szene, in der Shevek auf einer Party bei Vea mit ein paar Gästen ins Gespräch kommt und Vea ihn nach seiner Heimatwelt fragt. In dieser Schlüsselszene bricht einfach alles aus Shevek hervor, wovon er in seiner Zeit auf Urras keine genauen Begriffe hatte...
">>Aber erzählen sie doch von Anarres!<< sagte Vea, >>Wie ist es dort
wirklich? Ist es tatsächlich so wunderbar?<<
Er hockte auf der Armlehne des Sessels, während Vea zu seinen Füßen auf
einem Hocker saß, aufrecht und zart, mit Brüsten, die ihn mit ihren
blinden Augen anstarrten; Vea mit lächelndem selbstgefälligem, gerötetem
Gesicht.
Irgend etwas Dunkles breitete sich in Sheveks Kopf aus, verdunkelte
alles. Sein Mund war trocken. Er leerte das Glas, das ihm der Diener
gerade gefüllt hatte. >>Ich weiß es nicht<<, antwortete er; seine Zunge
war wie gelähmt.
>>Nein. Es ist nicht wunderbar. Es ist eine häßliche Welt. Nicht wie
diese. Anarres besteht nur aus Staub und trockenen Bergen. Alles öde,
alles trocken. Auch die Menschen sind nicht schön. Sie haben große Hände
und Füße, wie ich und der Diener dort. Aber keine großen Bäuche. Sie
werden sehr schmutzig und baden zusammen, das tut hier niemand. Die
Städte sind sehr klein und langweilig, richtig trostlos. Keine Paläste.
Das Leben ist langweilig und besteht aus harter Arbeit. Man kann nicht
immer bekommen, was man möchte, nicht einmal das, was man braucht, denn
es ist einfach nicht genug da. Ihr Urrasti habt von allem genug. Genug
Luft, genug Regen, Gras, Meere, Nahrung, Musik, Häuser, Fabriken,
Maschinen, Kleider, Geschichte. Ihr seid reich, ihr besitzt. Wir sind
arm, wir leiden Mangel. Ihr habt, wir haben nicht. Hier ist alles schön.
Nur die Gesichter nicht. Auf Anarres ist gar nichts schön, nichts außer
den Gesichtern. Die anderen Gesichter, die Männer und Frauen. Etwas
anderes haben wir nicht, wir haben nur uns. Hier sieht man den Schmuck,
dort sieht man die Augen. Und in den Augen sieht man die Pracht, die
Pracht des menschlichen Geistes. Weil unsere Männer und Frauen frei sind;
da sie nichts besitzen, sind sie frei. Und ihr, die Besitzenden, ihr seid
besessen. Ihr lebt alle im Gefängnis. Jeder für sich allein, mit einem
Haufen all dessen, was er besitzt. Ihr lebt im Gefängnis, sterbt im
Gefängnis. Das ist alles, was ich in Euren Augen sehe - die Mauer,
die Mauer<<"
Es gibt noch viele weitere Punkte, die beleuchtet werden, unter anderem auch das Verhältnis von Armen und Reichen, aber dies ist einer der Spannungsfäden des Buches, der zu seinem Ende eskaliert, wo wiederum viel in Frage gestellt und angeklagt wird...
"Planet der Habenichtse" hat das Potential, Mauern - Denkbarrieren - einzureißen, wo bereits kleine Löcher sind, an denen es ansetzen kann.
Für mich ist es immernoch das beste Buch, das ich gelesen habe (zugegebenermaßen sind das aufgrund der langen Pause nicht viele), aber es ist keine schöne, unterhaltsame Geschichte, sondern erfordert die Bereitschaft, sich mit den Thesen auseinanderzusetzen. Dann macht es aber umso mehr Spaß, und ist letztendlich ein schöner Denkansatz zu der Frage nach uns selbst, wer wir sind, was wir brauchen und woraus unsere Wünsche resultieren.
Ursula K.LeGuin "Planet der Habenichtse"; ISBN 3-360-00081-1
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